Wir veröffentlichen hier eine leicht überarbeitete, längere Version unseres Textes aus der
zum G20-Gipfel:
Der G20-Gipfel stellt für uns – im negativen wie positiven Sinne – eine gesellschaftliche Zäsur dar. Leicht abschütteln lassen sich die Erfahrungen aus der Gipfelwoche und ihre Folgen nicht. Als Gruppe von stadtpolitisch aktiven Anwohner_innen haben wir umfassende Einschränkungen des alltäglichen Lebens ebenso erlebt wie brutale Polizeirepression. Uns erschrecken die massiven Einschränkungen demokratischer Grundrechte und die Tendenzen hin zu einem autoritären Staat. Das hätten viele von uns in der Art nicht für möglich gehalten.
Gleichzeitig haben wir aber auch vielfältige Proteste sowie große Solidarität und Hilfsbereitschaft in unserer Nachbarschaft erlebt. Gerade dies lässt uns auch gestärkt aus den vergangenen Erfahrungen hervorgehen.
Festival der Repression
Schon Monate vor dem Gipfel begann der Belagerungszustand in der Stadt. Die Messehallen wurden ab März rund um die Uhr bewacht, es kam täglich zu Hubschraubereinsätzen, zusätzliche Überwachungskameras wurden installiert. Erste selbst gemalte Transparente machten eine empörte Grundstimmung gegen diese Militarisierung der Stadt deutlich: „Nein, wir haben kein Verständnis!“, „Ausnahmezustand!“ oder „Freiheit stirbt mit Sicherheit!“.
Dann wurde es ernst: Obdachlosen wurde nahe gelegt, die Innenstadt zu verlassen. Eine Allgemeinverfügung der Polizei über eine 38 km² große Demonstrationsverbotszone setzte das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit außer Kraft – etwas Neues für eine deutsche Großstadt. Um Protestcamps und andere Übernachtungsmöglichkeiten für Aktivist_innen wurde monatelang gerungen. Obwohl ein Verwaltungsgericht ausdrücklich Schlaf- und Küchenzelte erlaubte, wurde das Camp in Entenwerder von der Polizei brutal angegriffen und geräumt. Der Alte Elbtunnel und große Teile der Stadt wurden gesperrt und die Bewegungsfreiheit aller Hamburger_innen war massiv eingeschränkt.
Wir wurden von der Polizei wahllos kontrolliert, gefilmt, weggeräumt, ausgeschlossen, schikaniert, belogen und angegriffen. Nachbar_innen und Freund_innen kehrten mit teils schweren Verletzungen von Protestaktionen zurück. Das „Festival der Demokratie“ (Andy Grote) erlebten wir auf der Straße als „Festival der Repression“. Gefährdungen von Leib und Leben nahm die Polizei fahrlässig in Kauf. Angesichts der erlebten Brutalität stellt die Aussage, Polizeigewalt habe es nicht gegeben (Olaf Scholz), eine unfassbare Verharmlosung und Verleugnung dar. Olaf Scholz, Andy Grote und auch Hartmut Dudde mussten bisher keinerlei Konsequenzen für ihr Handeln tragen, die Verantwortlichen auf Bundesebene auch nicht, denn eine unabhängige Aufklärung über die Ereignisse und staatliches Fehlverhalten ist nicht vorgesehen. Stattdessen findet eine Kriminalisierung all derjenigen statt, die im Umfeld der Gipfelproteste aktiv waren: Linke Strukturen werden pauschal kriminalisiert, in Hamburg besonders deutlich sichtbar an der Forderung, die Rote Flora zu schließen.
Knapp 30 G20-Gegner_innen sind noch unter zum Teil absurden Gründen wie „vermuteter Szenezugehörigkeit“ in Untersuchungshaft. Beim ersten Prozess wurde trotz fragwürdiger Beweislage ein Urteil von 2 Jahren und 7 Monaten ausgesprochen für das Werfen von zwei Flaschen auf einen Beamten und ein angebliches Sich-zur Wehr-Setzen bei der Festnahme durch eine schützende „Embryonalhaltung“. Das Verurteilen der Schutzhaltung ist besonders absurd: Angesichts der erlebten Polizeibrutalität wäre es verrückt gewesen, sich nicht zu schützen. In das Urteil eingeflossen ist ebenso, dass der Angeklagte zur Verschärfung der Stimmung auf der Straße beigetragen hätte und somit mitverantwortlich gewesen sei für die schweren Ausschreitungen am Freitag – da saß er allerdings schon längst in Untersuchungshaft. Das Urteil ist unverhältnismäßig hart und offensichtlich politisch motiviert. Es soll abschreckend wirken. Angesichts dessen sprechen viele von uns von einem Verlust ihres Vertrauens in den Rechtsstaat und von der „Unfreien und Polizeistadt Hamburg“, andere sehen sich in ihrer ablehnenden Haltung zum bürgerlichen Rechtsstaat bestätigt.
Auf Bundesebene wird nun Wahlkampf mit bzw. gegen links gemacht: Die Internetplattform „Linksunten Indymedia“ wurde geschlossen und die Schließung vermeintlicher „Vorbereitungs- und Rückzugsorte linker Gewalt“ wird gefordert. Pünktlich zum G20 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, mit der ein „tätlicher Angriff“ auf Polizist_innen – was auch schon ein unbeabsichtigter Schubser im Gedränge sein kann – mit mindestens drei Monaten Freiheitsentzug geahndet wird. Nun setzen Innenminister De Maiziére und seine Unionskolleg_innen aus den Ländern noch eins drauf: Zukünftig sollen sich nicht nur Personen strafbar machen, die selbst Gewalt ausüben, sondern auch solche, die sich lediglich in räumlicher Nähe zu diesen aufhalten, ohne selbst gewalttätig zu sein. Dies werten wir als massiven Angriff auf die Versammlungsfreiheit.
Vielfältiger Protest
Das Vorhaben, den G20-Gipfel mitten in Hamburg stattfinden zu lassen, stellte für uns von Anfang an eine Provokation dar. Die G20-Staaten sind weltweit an Kriegen beteiligt und verantwortlich für Ausbeutung, Diskriminierung und Umweltzerstörung. Breiter Protest war zu erwarten. Schon lange im Voraus fanden in Hamburg Treffen, Aktionskonferenzen und Stadtteilversammlungen mit mehreren hundert Menschen statt, auf denen der Gipfel kritisiert und der Protest vorbereitet wurde. 20 Orte und Zentren organisierten Räume, in denen sich anreisende Aktivist_innen informieren und erholen konnten. Camps wurden organisiert. In Räume des FC St. Pauli zog das alternative Medienzentrum FCMC als zentraler Ort der Gegenöffentlichkeit ein. Unzählige Menschen planten Versammlungen, Demonstrationen, Blockaden und kreative Protestaktionen. Rechtsbeistand, Sanitäter_innen, Out-of-Action Gruppen, Küchen für alle und eine Unterstützung von Gefangenen und Repressionsopfern waren Teil der Vorbereitungen. Frühzeitig wurde überregional mobilisiert. Die Ablehnung gegen die Politik der G20 und Hamburg als Austragungsort des Gipfels war in den Stadtteilen rund um die Messe schon Monate im Vorfeld nicht zu übersehen. Anfang Juli befanden sich an vielen Hauswänden nun auch Banner mit Willkommensgrüßen an die Demonstrierenden und Kampfansagen gegen Kapitalismus und den Gipfel.
Bereits zwei Wochen vor dem Gipfel fand eine Demonstration von Geflüchteten gegen die Abschottungspolitik der G20 statt. Nach Hausdurchsuchungen und Campverboten kam es wenige Tage später zu einer spektrenübergreifenden Demonstration gegen die staatliche Repression. Und so sollte es sich die ganze Woche fortsetzen. „1000 Gestalten“ verdeutlichten mit einer Kunstaktion das Elend des Kapitalismus. Richtig viele, deutlich mehr als erwartet, waren wir ab dem politischen Massencornern am Dienstag. Zum „Lieber tanz ich als G20“-Rave und der „Welcome to hell“-Demonstration kamen jeweils gut zwanzigtausend Menschen zusammen. Selbst nach den heftigen Angriffen durch die Polizei am Donnerstagabend demonstrierten so viele Menschen gemeinsam und eigensinnig bis spät in die Nacht, dass wir ab diesem Zeitpunkt den Belagerungszustand praktisch aufgebrochen hatten. Die Blockaden am Freitag waren durch die hohe Beteiligung sehr erfolgreich und auf der großen „Grenzenlose Solidarität“-Demonstration kamen mit knapp 80.000 so viele Menschen zusammen wie seit Jahrzehnten nicht mehr in Hamburg.
Die Menge der Menschen und ihre Entschlossenheit, trotz der staatlichen Repression widerständig zu bleiben, war beeindruckend. Aber es war nicht nur die Quantität, die die Proteste so besonders machte, sondern auch ihre Qualität: Vielerorts wurde sich solidarisch aufeinander bezogen. Menschen, die hier wohnen, leben und arbeiten, und die, die extra angereist waren, machten eigene und kollektive Erfahrungen, nahmen sich Straßen und Plätze, sagten ihre Meinung, diskutierten und stellten sich quer, tanzten zusammen, protestierten und hörten sich gegenseitig zu. Unsere Erfahrungen waren vielfältig: bunt und schwarz, laut und leise, global und lokal.
Undifferenzierte Berichterstattung
Auf der medialen Bühne sind jedoch vorrangig Themen diskutiert worden, die mit unseren Erfahrungen wenig zu tun haben. Dabei sind auch Menschen zu Wort gekommen, die nicht am Ort des Geschehens waren. „Chaoten-Camps“ oder „Bürgerkriegsszenarien“ haben wir jedenfalls nicht erlebt. Eine pauschalisierte Gleichsetzung von Gipfelgegner_innen mit Chaot_innen und Polizist_innen mit Held_innen entspricht nicht unserer Wahrnehmung. Von der Polizei wurden Meldungen in Umlauf gebracht, die ungefiltert in die Live-Fernsehsendungen und Tageszeitungen aufgenommen und von dort bis an die Stammtische getragen wurden. Beispielsweise gab es die Behauptung, dass es einen organisierten Hinterhalt im Schanzenviertel oder massiven Flaschenbewurf im Rondenbarg gab, obwohl dafür keine eindeutigen Beweise vorgelegt wurden. Das erinnert stark an die Lügen nach dem Schweinske-Cup 2012, nach der unter Dudde nahe der Roten Flora aufgestoppten Demonstration im Dezember 2013 und nach dem angeblichen „Angriff auf die Davidwache“, der Fans vom FC St. Pauli zur Last gelegt wurde.
Über die Solidarisierung von Anwohner_innen mit Gipfelgegner_innen wurde kaum berichtet. Stattdessen dominierten austauschbare Bilder von brennenden Barrikaden, ohne auf die Gründe und Inhalte militanter und gewaltförmiger Proteste einzugehen. Auch wir Anwohner_innen sind uns durchaus nicht einig darüber, wie mit diesen Bildern und den eigenen Erlebnissen – auch bezüglich der Riots in der Schanze in der Nacht auf den 8. Juli – umzugehen ist, und befinden uns noch im Prozess der Aufarbeitung. Klar ist für uns aber, dass wir die undifferenzierte Berichterstattung über uns, den Stadtteil, den Gipfel und die Proteste satt haben.
Solidarität im Stadtteil
Mut gemacht hat es, dass am 20. Juli über tausend Menschen für einen offenen Austausch zur Stadtteilversammlung gekommen sind, um über unterschiedliche Erfahrungen und Sichtweisen zu den Protesten und der Polizeigewalt zu reden. Gemeinsam wollen wir das Geschehene nicht einfach so hinnehmen. Vom G20-Sonderausschuss erwarten wir nicht viel. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss hätte weitergehende Befugnisse, die Linke allein kann ihn aber nicht ins Leben rufen. So bleibt nur, einen außerparlamentarischen Untersuchungsausschuss ins Leben zu rufen, der zudem frei von parteipolitischen Interessen arbeitet. An dessen Vorbereitung und Durchführung werden wir uns beteiligen. Wir wissen, was wir erlebt haben, und werden unsere Geschichten weitererzählen. Das Gedächtnis des Stadtteils ist nachhaltig und wird die kurzen Amtszeiten von Bürgermeister_innen, Polizeiführungen und Senator_innen überleben.
Wir haben uns verändert und unser Stadtteil hat sich auch verändert. Doch neben der Wut, die viele von uns empfinden, bleibt in der Erinnerung an den Gipfel auch Hoffnung: Gegen den repressiven Belagerungszustand haben wir uns selbst organisiert. „St. Pauli selber machen“ war Programm. Wie stark der Zusammenhalt von Anwohner_innen und Aktivist_innen ist, hat uns eindrücklich die breite Solidarität mit der Roten Flora auf der Stadtteilversammlung am 20. Juli gezeigt. „Flora bleibt!“, das steht für uns fest. Aber auch die anderen kulturellen und politischen Zentren in der ganzen Stadt müssen fortbestehen, ja es braucht mehr von solchen Orten. In ihnen haben wir eine intensive und Mut machende Nachbarschaft erfahren. Wir werden uns dafür einsetzen, diese erlebte Kultur der Solidarität und des „Selber-Machens“ zu verbreiten und zur Grundlage einer Stadt der Zukunft zu machen.
St. Pauli selber machen, September 2017